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Toxische Scham – ein Beispiel aus meiner Praxis
„… und irgendwie habe ich ständig das Gefühl, dass ich nicht gut genug bin, egal was ich tue.“
Ich nicke verständnisvoll und lehne mich ein wenig vor, die Hände locker auf meinen Knien. „Erzählen Sie mir mehr darüber. Wann hatten Sie dieses Gefühl das letzte Mal?“
Herr Müller seufzt schwer und schaut aus dem Fenster, seine Schultern sind angespannt. „Gestern bei der Arbeit. Mein Chef hat mich in einer Besprechung kritisiert, und plötzlich waren alle Augen auf mich gerichtet. Ich habe kaum noch etwas herausbekommen.“
Ich beobachte seine Hände, die kräftig an den Ärmeln der Jacke zupfen, und höre das Zittern in seiner Stimme. „Das muss sich schrecklich angefühlt haben.“
Er nickt. „Ja, das hat es. Jeden Abend gehe ich nach Hause und denke darüber nach, was ich alles falsch mache. Es verfolgt mich richtiggehend.“
„Was passiert dann, wenn Sie zu Hause sind?“ frage ich Herrn Müller ohne ihn zu bedrängen.
„Ich kann mich nicht entspannen“, sagt er leise. „Meine Frau fragt, wie mein Tag war, und ich will nur noch darüber schweigen. Ich setze mich oft einfach ins Wohnzimmer und starre vor mich hin.“
Ich bemerke ein feines Zittern seiner Hände. „Das klingt, als ob diese Gedanken Sie noch lange begleiten und Ihnen den Feierabend verderben.“
Er schaut zu Boden und atmet tief durch. „Ja, genau. Es ist, als ob ich in einem endlosen Kreislauf gefangen bin.“
In der Stille der Nacht nagt ein unsichtbarer Feind an Herrn Müllers Selbstwertgefühl – die Scham. Möglicherweise kennen Sie dieses Gefühl auch und Sie fragen sich, wie sie ihm begegnen können, wie Sie wieder mehr Selbstwertgefühl erlangen können. Hier lesen Sie, was toxische Scham ist, wie sie entsteht, welche Auswirkungen sie haben kann und natürlich auch, wie Sie dieses Gefühl hinter sich lassen können.
Was ist toxische Scham?
Kennen Sie das Gefühl, das Ihnen immer wieder einredet, Sie seien nicht gut genug? Das kann im beruflichen Kontext auftauchen oder im privaten. Meist sind sogar beide Bereiche betroffen. Scham, die oft in der Kindheit aufgrund negativer Erfahrungen oder emotionaler Vernachlässigung entsteht, kann tief in uns verwurzelt sein. Stellen Sie sich ein Kind vor, das in einer unemotionalen und sehr kritischen Familie aufwächst. Jeder Fehler – und sei er noch so klein – wird zum Thema, das Kind wird wieder und wieder gemaßregelt, wodurch im Kind das Gefühl entsteht, wertlos zu sein und alles falsch zu machen.
Dieses Gefühl kann im Laufe der Zeit zu einem tief verwurzelten Muster werden, das sich auf alle Lebensbereiche auswirken kann. Es kann dazu führen, dass man sich unsicher fühlt, ständig nach Bestätigung sucht und Angst davor hat, Fehler zu machen. Selbst wenn man äußerlich erfolgreich ist, nagt doch immer diese innere Stimme an einem, die einen daran zweifeln lässt, ob man wirklich gut genug ist. Es ist wichtig, dieses Muster zu erkennen und anzugehen, um sich von diesen hinderlichen Überzeugungen zu befreien.
Die Ursprünge der toxischen Scham
Die Ursprünge der toxischen Scham reichen oft bis in die Kindheit zurück. Erfahrungen und Begegnungen mit den Eltern können prägend sein und das Selbstwertgefühl stark beeinflussen.
Denken Sie an das oben genannte Beispiel: das Kind, das derart kritisiert wird, dass es das Gefühl entwickelt, wertlos zu sein und ständig zu versagen.
Das gefährliche hierbei ist, dass Kinder in der Regel viel stärker auf der emotionalen Ebene unterwegs sind, als auf der rationalen, weshalb sich solche toxischen Gefühle viel leichter und quasi ohne rationale Gegenwehr im Kind festsetzen können.
So beginnt das Kind, sich zu schämen – für jeden “Fehler”, für jedes “Versagen” und irgendwann für sich selbst. Das ist die Geburtsstunde der toxischen Scham, die in unserem inneren Kind auch dann noch weiter wirkt, wenn wir längst erwachsen sind.
Schauen wir auf die Kinheit von Herrn Müller. Wie ist er aufgewachsen? Wie kam es dazu, dass sich die Scham in ihm festsetzen konnte?
Herr Müller wuchs in einer Familie auf, in der seine dominante und perfektionistische Mutter die zentrale Figur war. Sie war stets darauf bedacht war, dass alles nach ihrer Vorstellung von Perfektion lief.
Schon als kleiner Junge lernte Herr Müller, dass seine Mutter ihm nur Liebe, also das, was Herr Müller als Kind dafür hielt, gab, wenn er gute Leistungen erbrachte. Ganz gleich, ob es um Tätigkeiten im Haushalt oder um Zensuren in der Schule ging: ohne Leistung keine Liebe.
Stimmten die Ergebnisse nicht mit den Ansprüchen seiner Mutter überein, wurde er bestraft.
Seine Mutter war dabei nie laut oder aggressiv, aber ihre Enttäuschung war spürbar, selbst in ihrem Schweigen. Ein zusammengekniffener Mund, ein strenger Blick – das reichte oft aus, um dem jungen Herrn Müller klarzumachen, dass er ihre Erwartungen wieder einmal nicht erfüllt hatte.
Als er in der Grundschule mit einer 2 in einer Mathearbeit nach Hause kam, fragte seine Mutter mit hochgezogenen Augenbrauen: „Und warum ist es keine 1?“ Ob er sich angestrengt hatte oder ob er stolz auf sich sei, war uninteressant – es zählte nur das Ergebnis, das immer ein bisschen besser hätte sein können.
Die Kritik seiner Mutter war mitunter subtil, aber sie hatte immer eine starke Wirkung auf Herrn Müller. Sie äußerte selten direkte Vorwürfe, aber ihr ständiges Bedürfnis, alles zu optimieren, vermittelte Herrn Müller das Gefühl, dass er selbst auch optimiert werden musste. Es war nie genug, was er tat. Immer war da eine mehr oder weniger kleine kritische Anmerkung: „Du hast das gut gemacht, aber das nächste Mal könntest du versuchen, noch schneller zu sein“, oder „Dein Aufsatz war in Ordnung, aber deine Handschrift könnte ordentlicher sein.“
Irgendwann begann Herr Müller, sich selbst mit den Augen seiner Mutter zu sehen. Das war natürlich keine bewusste Entscheidung, vielmehr war es ein unbewusster Schutzmechanismus, der notwendig war, wollte er Kritik vermeiden und Liebe erhalten.
“Ich wünschte, ich hätte mich zumindest als ein Monster gesehen”, sagte Herr Müller in einer Sitzung, “aber ich sah mich einfach nur als ein Nichts. Damals fehlten mir die Worte, um das zu beschreiben, aber heute würde ich das Gefühl von damals genau so ausdrücken. Ich lief völlig verunsichert durch die Welt” berichtete er und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, “’bloß keinen Fehler machen‘ war die oberste Maxime. Denn alles – und da übertreibe ich nicht – wirklich alles hatte das Potential, bei mir Scham auszulösen. In diesen Momenten hätte ich mich am liebsten aufgelöst.” Hier muss sich Herr Müller einige Taschentücher aus der Box ziehen, weil sein Finger nicht mehr ausreicht, um seiner Tränen Herr zu werden.
Die Kritik seines Chefs in der Besprechung war wie ein Déjà-vu, das ihn in seine Kindheit zurückversetzte, als er vor seiner Mutter stand und sich wieder einmal auflösen wollte. Die Scham, die er damals als Kind verspürte, ist bis jetzt ein ständiger Begleiter in seinem Leben gewesen, der ihn oft daran gehindert hat, sein Leben frei und unbefangen zu gestalten.
Dafür fehlte ihm die positive Erfahrung, sich selbst zu akzeptieren und zu vertrauen. Aber es ist nie zu spät, sich mit diesen Gefühlen auseinanderzusetzen und neue Wege zu finden, um ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben zu führen.
Die Auswirkungen von toxischer Scham
Wie Sie sehen können die Auswirkungen von massiven Beschämungen in der Kindheit tiefgreifend sein und einen das ganze Leben lang begleiten. Sie können sich auf verschiedene Lebensbereiche auswirken, beispielsweise Beziehungen, Selbstwertgefühl und berufliche Erfolge. Menschen, die unter toxischer Scham leiden, können Schwierigkeiten haben, gesunde Grenzen zu setzen oder sogar, sich selbst zu akzeptieren.
Diese Gefühle von Schuld und Scham können oft bis ins Erwachsenenalter zurückverfolgt werden und haben ihren Ursprung oft in traumatischen Kindheitserfahrungen – häufig durch das Verhalten der Eltern oder anderer nahestehender Personen.
TRAUMA
Ein Trauma entsteht, wenn eine Person eine überwältigende, oft bedrohliche Erfahrung macht, die ihre Fähigkeit übersteigt, mit den erlebten Emotionen umzugehen. Trauma kann sowohl durch einmalige als auch durch wiederholte belastende Ereignisse wie emotionale Gewalt oder Vernachlässigung verursacht werden. Emotionale Gewalt ist eine Form von Misshandlung, bei der ein Kind durch Worte oder Verhalten dazu gebracht wird, sich wertlos, ungeliebt oder unsicher zu fühlen.
Dies kann geschehen, indem dem Kind vermittelt wird, dass es nur existiert, um die Bedürfnisse anderer zu befriedigen, oder dass es niemals gut genug ist. Vernachlässigung hingegen ist eine passive Form der Misshandlung, bei der dem Kind notwendige Fürsorge und Unterstützung vorenthalten werden. Körperliche Vernachlässigung tritt auf, wenn ein Kind nicht ausreichend Schutz, Nahrung oder medizinische Versorgung erhält. Emotionale Vernachlässigung bedeutet, dass das Kind nicht die notwendige Nähe, Geborgenheit und emotionale Unterstützung erhält, die es für eine gesunde Entwicklung braucht.
Es ist wichtig, zu erkennen, wenn man unter toxischer Scham leidet und professionelle Hilfe in Form von Psychotherapie oder Psychologischer Beratung in Anspruch zu nehmen. So ist es möglich, Wege zu finden, die seelischen Wunden heilen zu lassen und diese destruktiven Gefühle zu überwinden um ein erfülltes Leben zu führen.
Fazit
Toxische Scham entsteht häufig durch wiederholte, tiefe Verletzungen und Demütigungen, die sich in unserem Leben angesammelt haben. Solche Erfahrungen können aus verschiedenen Quellen stammen – sei es durch strenge Erziehung, Mobbing, missbräuchliche Beziehungen oder gesellschaftlichen Druck. Immer wenn wir diese Erniedrigungen erleben, hinterlassen sie Spuren in unserem Selbstbild und nähren das Gefühl, minderwertig oder gar unzulänglich zu sein.
Die Auswirkungen toxischer Scham sind tiefgreifend und weitreichend. Sie kann unser Selbstvertrauen und unsere Fähigkeit, gesunde zwischenmenschliche Beziehungen zu führen, erheblich beeinträchtigen. Oft führt sie zu einem Teufelskreis aus Selbstabwertung und Rückzug. Betroffene Menschen trauen sich möglicherweise nicht, ihre Fähigkeiten und Talente zu zeigen, aus Angst, erneut verletzt oder verspottet zu werden. Dies kann zu Isolation, Depression und sogar zu körperlichen Symptomen führen.
Doch es gibt Hoffnung. Indem wir uns dieser tief verwurzelten Gefühle bewusst werden und anfangen, sie zu hinterfragen, können wir langsam beginnen, uns von der Last der toxischen Scham zu befreien. Unterstützung durch Therapeuten, Selbsthilfegruppen oder vertraute Freunde kann dabei eine wesentliche Rolle spielen. Durch Selbstmitgefühl und eine mutige Auseinandersetzung mit unseren Wunden können wir den Weg zu einem authentischeren und erfüllteren Leben ebnen. Denken Sie daran: Sie sind mehr als die Summe Ihrer schmerzhaften Erfahrungen. Sie verdienen es, Freude und Selbstakzeptanz zu finden.
Lesen Sie dazu mehr im 2. Teil des Artikels ab 2. September 2024.
Weitere Informationen
- https://therapeuten.traumaheilung.de/scham-und-psychotherapie/
- https://innerekinder.de/blog/toxische-scham
FAQ
Was hilft gegen toxische Scham?
Gegen toxische Scham hilft es, sich selbst zu akzeptieren und Selbstmitgefühl zu praktizieren. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass niemand perfekt ist und Fehler Teil des menschlichen Lebens sind. Sich selbst zu vergeben und liebevoll mit sich umzugehen, kann helfen, die toxische Scham zu überwinden. Zudem kann es hilfreich sein, über die eigenen Gefühle und Gedanken zu sprechen, sei es mit Freunden, Familie oder einem Therapeuten. Durch das Teilen und Verarbeiten von negativen Erfahrungen kann die Scham langsam abgebaut werden. Es ist auch wichtig, sich von negativen Einflüssen zu distanzieren und sich auf positive und unterstützende Beziehungen zu konzentrieren. Selbstreflexion und Achtsamkeit können ebenfalls helfen, die eigenen Muster und Gedanken zu erkennen und zu verändern. Letztendlich ist es ein Prozess, der Zeit und Geduld erfordert, aber mit der richtigen Unterstützung und Selbstfürsorge kann toxische Scham überwunden werden.
Welches Bedürfnis steht hinter Scham?
Hinter Scham steht das Bedürfnis nach sozialer Akzeptanz und Zugehörigkeit. Oft entsteht Scham, wenn man das Gefühl hat, den Erwartungen anderer nicht zu entsprechen oder sich unangemessen verhalten zu haben. Sie kann auch entstehen, wenn man sich seiner eigenen Schwächen bewusst wird und sich dadurch verletzlich fühlt. Das Bedürfnis nach Scham kann dazu führen, dass man sich in sozialen Situationen zurückzieht oder versucht, sein Verhalten anzupassen, um Ablehnung zu vermeiden. Scham kann auch ein Hinweis darauf sein, dass man bestimmte Werte oder Normen verletzt hat und dadurch ein Gefühl der Schuld entsteht. Insgesamt dient Scham dazu, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten und das Zusammenleben in der Gemeinschaft zu regulieren. Es ist wichtig, mit Schamgefühlen achtsam umzugehen und sie als Hinweis auf persönliche Bedürfnisse und Werte zu betrachten.
Woher kommt starkes Schamgefühl?
Ein starkes Schamgefühl kann aus verschiedenen Quellen stammen. Oft entsteht Scham, wenn man das Gefühl hat, den Erwartungen anderer nicht gerecht zu werden oder wenn man sich für eigene vermeintliche Schwächen oder Fehler schämt. Auch negative Erfahrungen in der Vergangenheit, wie Demütigungen oder Kritik, können zu einem starken Schamgefühl führen. Darüber hinaus kann Scham auch durch gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen beeinflusst werden, die bestimmte Verhaltensweisen oder Eigenschaften als unangemessen oder inakzeptabel kennzeichnen. In manchen Fällen kann auch ein geringes Selbstwertgefühl oder ein Minderwertigkeitskomplex zu einem verstärkten Schamgefühl beitragen. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass Scham ein weit verbreitetes menschliches Gefühl ist und dass es hilfreich sein kann, professionelle Unterstützung oder Selbstreflexion zu suchen, um mit starkem Schamgefühl umzugehen
Welche Art von Scham gibt es?
Es gibt verschiedene Arten von Scham, darunter die Scham vor anderen Menschen, die sich aus dem Gefühl der Bloßstellung oder Demütigung ergibt. Eine weitere Art ist die Scham vor sich selbst, die durch das Bewusstsein über eigene vermeintliche Fehler oder Unzulänglichkeiten entsteht. Zudem gibt es kulturelle Scham, die durch Normen und Werte einer Gesellschaft geprägt ist und sich in der Angst vor sozialer Ablehnung äußern kann. Die Scham kann auch als Reaktion auf moralische Verfehlungen empfunden werden, was als moralische Scham bezeichnet wird. Des Weiteren gibt es noch die Scham im psychotherapeutischen Kontext, die oft mit tief sitzenden emotionalen Konflikten oder Traumata in Verbindung gebracht wird. Insgesamt ist Scham ein komplexes Gefühl, das verschiedene Facetten und Ausprägungen haben kann und sowohl individuell als auch gesellschaftlich beeinflusst wird.
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