Positivität und toxische Positivität
Grundsätzlich ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, dass jemand versucht, positiv durchs Leben zu gehen.
Es ist erwiesen, dass optimistische Menschen Krisenzeiten leichter durchschreiten, sich nach Misserfolgen schneller berappeln und im Allgemeinen ein hohes Maß an Resilienz mitbringen.
Wie kann also Positivität toxisch sein?
Wie bei wahrscheinlich allem Guten gibt es auch beim Thema „Positivität“ ein zu viel:
Inhaltsverzeichnis
„Toxische Positivität“ liegt vor, wenn negative Gefühle um jeden Preis vermieden werden müssen.
Vielleicht fragt sich manch einer, was daran schlimm sei, negative Gefühle zu vermeiden.
Negative Gefühle sind durchaus sinnvoll
Die Antwort ist ganz einfach: wir suchen uns nur bedingt aus, was wir fühlen und wie wir uns fühlen.
Es ist beispielsweise normal, dass ein Trauerfall eben mit Trauer einhergeht oder ein Streit mit dem Partner vielleicht mit einer Mischung aus Wut, Trauer und Angst endet.
Das alles sind Gefühle, die der jeweiligen Situation angemessen sind und in dieser Situation eine Berechtigung haben.
Es sind Gefühle, die uns zur Reflektion anhalten, uns innehalten und neu sortieren lassen, die uns anzeigen, dass eine Grenze überschritten oder ein Bedürfnis verletzt wurde.
Oder sie geben uns den kraftvollen Impuls, aus unserem Leben wirklich unser Leben zu machen.
Wollen wir uns und andere wirklich ständig mit der Floskel „alles gut“ beschwichtigen?
Es gibt keinen Menschen, in dessen Leben immer alles rund läuft und alles gut ist.
Es gibt Konflikte, Krankheiten, Verlustängste, Existenzsorgen und vieles mehr.
Das gehört – genau wie der Tod – zum Leben dazu.
Dies zu akzeptieren nicht immer einfach, dies und die dazugehörigen Gefühle aber dauerhaft zu verdrängen, ist kräftezehrender, als auf dem Bau Zementsäcke zu schleppen.
Angst vor unangenehmen Gefühlen
Da die toxische Positivität genau genommen die Angst von negativen Gefühlen ist, dehnt sie sich, wie alle Ängste es tun, immer weiter aus.
Erst versuchen wir nur bei uns selbst die negativen Gefühle zu unterdrücken.
Da aber die negativen Gefühle unserer Freunde und Familienmitglieder in uns genau das ansprechen, was wir nicht fühlen wollen (Trauer, Wut, Angst), müssen wir die Gefühle eben auch bei unseren Freunden und Familienmitgliedern vermeiden.
Phrasen wie „auf Regen folgt immer Sonnenschein“, „warte mal ab, morgen sieht es schon ganz anders aus“, „steigere dich da mal nicht so rein“ oder „ist doch gar nicht so schlimm“ werden dann zu unserer Pauschalabwehr für alles, was unseren inneren Scheinfrieden stören könnte.
Leider wehren wir damit nicht nur ungeliebte Gefühle ab, sondern direkt den Kontakt zu unserem Gegenüber.
Denn ernst genommen und verstanden fühlt sich SO niemand. Und wenn man sich nicht ernst genommen und nicht verstanden fühlt, dann wendet man sich von der Person mit der Zeit immer mehr ab.
Aber toxische Positivität bringt nicht nur unsere sozialen Kontakte in Schieflage, sondern auch uns selbst, wie die Dichterin Mascha Kaléko (1907-1975) in ihrem Gedicht „Take it easy“ beschreibt:
Take it easy
Tehk it ih-si, sagen sie dir.
Noch dazu auf englisch.
„Nimm’s auf die leichte Schulter!“
Doch, du hast zwei.
Nimm’s auf die leichte.
Ich folgte diesem populären
Humanitären Imperativ.
Und wurde schief.
Weil es die andre Schulter
Auch noch gibt.
Man muß sich also leider doch bequemen,
Es manchmal auf die schwerere zu nehmen.
(Mascha Kaléko)
Möglicherweise war Mascha Kaléko der Begriff „toxische Positivität“ gar nicht bekannt, aber der Wunsch, Unangenehmes zu verdrängen, ist wahrscheinlich so alt, wie die Menschheit.
Toxische Positivität kann Wachstum hemmen
Der Wunsch, unangenehme Gefühle zu verdrängen ist also verständlich und nachvollziehbar.
Allerdings versagen wir uns dadurch einige Wachstumsmöglichkeiten.
Ein passender Vergleich ist Sport.
Viele Leute müssen sich überwinden, um zum Sport zu gehen, aber alle fühlen sich hinterher besser als vorher.
Die toxische Positivität wäre in diesem Fall die heimische Couch: im ersten Moment der einfachere Zeitvertreib. Allerdings habe ich noch nie erlebt, dass sich jemand nach drei Stunden vor der Glotze wirklich gut gefühlt hat.
Lassen sie unangenehme Gefühle also ruhig zu. Sie können davon ausgehen, dass
- Sie es aushalten können
- Sie es überleben werden
- Sie neue Fähigkeiten entwickeln oder bisher unbekannte Ressourcen entdecken
- Sie auf lange Sicht ein unerschütterliches Vertrauen in sich selbst und die eigenen Fähigkeiten entwickeln werden.
- Sie stets der Fels in der Brandung sein können, wenn es darauf ankommt.
Ein Fels in der Brandung kann eben auch Sturm aushalten.
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