Hier lesen Sie Teil 1 (Ambivalenz – von Entscheidungsdruck zur Zufriedenheit).
Wie im ersten Teil gelesen, ist ein Entweder-Oder-Denken das, was die Welt einem abzuverlangen scheint, ein Denken das ein „Sowohl als auch“ berücksichtigt ist zumeist das, was uns Menschen mehr gerecht wird. Müssen wir ein Entweder-Oder-Denken zwangsläufig beibehalten oder können wir im Sinne des eigenen inneren Friedens lernen einem „Sowohl als auch“ mehr Platz in unserem Denken und Leben einzuräumen?
Inhaltsverzeichnis
Mehr innere Ruhe durch „sowohl als auch“?
Oft neigen wir dazu, uns zwischen zwei Optionen entscheiden zu wollen – entweder das eine oder das andere. Doch dieser Drang nach Eindeutigkeit kann uns mehr Stress bereiten, als uns bewusst ist. Das „Sowohl als auch“ bietet hier eine Alternative, die uns paradoxerweise zu mehr innerer Ruhe führen kann. Anstatt sich zu zwingen, eine klare Entscheidung zu treffen, erlaubt das „Sowohl als auch“ beiden Seiten eines Problems oder Gefühls ihren Raum. Dadurch wird der Druck, sich sofort und eindeutig festlegen zu müssen, verringert.
Wenn wir zum Beispiel gleichzeitig Freude über eine neue berufliche Herausforderung empfinden, aber gleichzeitig auch Angst vor dem Scheitern haben, müssen wir uns nicht für eine Seite entschieden. Indem wir beide Emotionen zulassen und sie nebeneinander stehen lassen, schaffen wir eine Form der inneren Akzeptanz. Dieses Akzeptieren der Widersprüche nimmt die Schärfe aus der Situation und fördert das Gefühl, nicht in einem ständigen Kampf mit uns selbst zu stehen.
Das „Sowohl als auch“ bedeutet letztlich, die Realität in ihrer Komplexität zu akzeptieren und den inneren Frieden zu finden, auch wenn nicht alles perfekt in eine Schublade passt. Statt auf schnelle Entscheidungen zu drängen, bietet es die Möglichkeit, mit mehr Gelassenheit und Offenheit durch das Leben zu gehen.
Wieso fördert ein “sowohl als auch” die innere Ruhe?
Ich habe vor einiger Zeit einen Artikel mit dem Titel „Egal ist keine Entscheidung“ geschrieben, in dem ich beschrieben haben, warum ich es für sehr wichtig halte, klare Entscheidungen treffen zu können.
Sollten Sie den gelesen haben, könnten Sie denken, dass „sowohl als auch“ und „egal“ eigentlich nicht so weit auseinanderliegen. Deswegen kurz dazu: Ich halte es für wichtig, Entscheidungen treffen zu können, die das eigene Leben betreffen:
- Habe ich eher Appetit auf einen Salat oder auf eine Pizza?
- Möchte ich lieber in der Stadt oder auf dem Land wohnen?
- Mache ich Urlaub in Spanien oder in Schweden?
Das sind drei Beispiele, die eine eindeutige Entscheidung erfordern, zu der wir auch in der Lage sind. Ein „sowohl als auch“ wäre vielleicht noch beim Essen denkbar, bei den anderen beiden Beispielen zumindest nicht gleichzeitig.
Das „Sowohl als auch“ kommt zum Zug, wenn es darum geht, dass einem das Gefühl vermittelt wird, man müsse zu einer bestimmten Thematik eine eindeutige Meinung haben. Das muss nicht der Fall sein. Viele Themen sind so komplex, dass eine eindeutige Meinung schwer zu treffen ist.
Ist beispielsweise eine Legalisierung von Cannabis für Schmerzpatienten gut oder schlecht? Einerseits finden sicherlich einige Menschen diese Idee gut, denn die schmerzlindernde und entspannende Wirkung von Cannabis ist nachgewiesen. Auf der anderen Seite kann Cannabis auch Psychosen auslösen, was wiederum für einige Menschen gegen eine Legalisierung spricht. Möglicherweise gibt es sogar eine Schnittmenge zwischen beiden Gruppen: sowohl als auch.
Ich möchte hier keine Diskussion um Cannabis beginnen, es geht mir darum, den Vorteil einer „sowohl als auch“-Haltung anhand eines konkreten Beispiels zu demonstrieren. Und hier wird auch deutlich, dass sich – im Gegensatz zu einer Egal-Haltung – ein „Sowohl als auch“ durchaus mit der Thematik beschäftigt.
Ein „Sowohl als auch“ ist in einer Diskussion eher ein stabilisierender Kitt zwischen den „entweder-oder“-Fraktionen und verhindert eine Polarisierung, die in einer unüberbrückbaren Aufspaltung in zwei Lager münden kann.
Ein „Sowohl als auch“ fördert also die innere Ruhe, weil es uns von dem Druck befreit, immer eine klare Entscheidung treffen zu müssen. Oft entsteht Stress dadurch, dass wir uns gezwungen fühlen, zwischen zwei scheinbar gegensätzlichen Positionen zu wählen. Das „Entweder-oder“-Denken schränkt uns ein und erzeugt innere Anspannung, da wir versuchen, komplexe Zusammenhänge oder Situationen in einfache Kategorien zu pressen, die dem ursprünglichen Thema vielleicht gar nicht mehr gerecht werden. Das „Sowohl als auch“ hingegen erlaubt uns, beide Seiten einer Situation gleichzeitig zu akzeptieren – ohne sofortige Lösungen finden zu müssen.
Durch diese Akzeptanz entsteht eine Art innerer Ausgleich. Wir nehmen sowohl positive als auch negative Aspekte an, ohne eine Seite in uns unterdrücken zu müssen. Anstatt uns im Konflikt zu verlieren, schaffen wir Raum für unterschiedliche Gefühle und Gedanken, was uns mehr Flexibilität und Gelassenheit schenkt. Diese Haltung ermöglicht es uns, Widersprüche nicht als Hindernisse zu sehen, sondern als natürlichen Teil des Lebens – und das nimmt viel von der inneren Unruhe, die oft mit Entscheidungen verbunden ist.
Stabilitätsfaktor „sowohl als auch“ – in Beziehungen und der Gesellschaft
Das „Sowohl als auch“ bietet nicht nur auf individueller Ebene Stabilität, sondern kann auch innerhalb von Gruppen und sogar in der Gesellschaft als stabilisierender Faktor wirken. In sozialen Beziehungen – ob Freundschaften, Partnerschaften oder in der Familie – sind widersprüchliche Gefühle und Meinungen völlig normal. Wenn wir uns jedoch auf eine starre „Entweder-oder“-Position versteifen, ziehen wir im übertragenden Sinne die Zugbrücke hoch und sperren andere Sichtweisen und Argumente konsequent aus. So können sich Konflikte schnell bis zur Eskalation hochschaukeln und sogar Trennungen verursachen oder zu Ausgrenzung führen.
Das „Sowohl als auch“ schafft hier die Möglichkeit, gleichzeitig unterschiedliche Sichtweisen anzuerkennen und nebeneinander stehen zu lassen. Damit fördert es gegenseitiges Verständnis und schafft Raum für mögliche Kompromisse, ohne dass eine Seite komplett nachgeben muss.
Auch auf gesellschaftlicher Ebene kann diese Haltung ein wichtiger Stabilitätsfaktor sein. In Zeiten zunehmender Polarisierung, in denen extremen Positionen ein hohes – möglicherweise ein zu hohes – Maß an Aufmerksamkeit geschenkt wird – „für oder gegen“, „schwarz oder weiß“ – kann das „Sowohl als auch“ helfen, Brücken zu bauen. Mit einem „Sowohl als auch“ als innere Haltung können wir komplexe Themen differenzierter betrachten. Damit können wir verhindern, dass Menschen in Schubladen gesteckt oder ausgegrenzt werden, nur weil sie nicht vollständig einer Seite angehören. Ambivalenz anzuerkennen ist in meinen Augen eine wichtige Grundlage für ein respektvolles Miteinander und einen ebensolchen Dialog, weil es die Vielfalt menschlicher Erfahrungen und Ansichten respektiert.
Letztlich schafft das „Sowohl als auch“ Stabilität, indem es dafür sorgt, dass die oben erwähnte Zugbrücke wieder heruntergelassen werden kann und Platz für Differenzierungen lässt – sowohl in persönlichen Beziehungen als auch im größeren gesellschaftlichen Kontext. Diese Flexibilität stärkt das Miteinander und verhindert Spaltung, indem sie unterschiedliche Perspektiven und Bedürfnisse nebeneinander stehen lassen kann.
Strategien zur Stärkung Ihrer „Sowohl als auch“-Haltung
Die „Sowohl als auch“-Haltung erfordert Übung und Bewusstsein, denn wir sind meistens darauf konditioniert, klare Entscheidungen treffen zu müssen und Widersprüche zu vermeiden. Doch mit einigen Strategien lässt sich diese flexible Denkweise stärken und bewusst im Alltag einsetzen.
- Akzeptanz von Widersprüchen üben
Eine der wichtigsten Fähigkeiten ist es, widersprüchliche Gefühle und Gedanken erst einmal annehmen zu können, anstatt zu denken, sie sofort lösen zu müssen. Fragen Sie sich in konfliktreichen Situationen: Kann ich beide Seiten gleichzeitig akzeptieren? Indem Sie lernen, dass positive und negative Aspekte nebeneinander existieren dürfen, verringert sich der innere Druck, sofort eine klare Position einnehmen zu müssen. - Perspektivwechsel zulassen
Versuchen Sie bewusst, die Perspektive zu wechseln. Wenn Sie zum Beispiel in einer Diskussion merken, dass Sie zu einer extremeren Position neigen, fragen Sie sich: Was könnte die andere Seite Gutes an ihrer Position sehen? Dieser Schritt fördert eine differenzierte Sicht und verhindert starres Schwarz-Weiß-Denken. Oft hilft es, sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen und dessen Gefühle und Argumente ernst zu nehmen. - Kleine Entscheidungen als Übung
Üben Sie das „Sowohl als auch“ bei kleinen Entscheidungen. Wenn Sie beispielsweise zwischen zwei Aktivitäten wählen müssen, können Sie sich fragen, ob es möglich ist, beide in einem Kompromiss zu vereinen. Das stärkt Ihre Fähigkeit, verschiedene Optionen gleichzeitig wertzuschätzen, ohne den Druck zu verspüren, sich radikal festlegen zu müssen. - Geduld mit sich selbst
Ambivalenz kann unangenehm sein, weil sie oft mit Unsicherheit verbunden ist. Geben Sie sich selbst die Erlaubnis, ambivalente Gefühle aushalten zu dürfen, ohne sofort handeln zu müssen. Es ist in Ordnung, wenn Sie auch mal Moment widersprüchliche Emotionen erleben. Ich kann Ihnen versichern, dass nicht das nicht bedeutet, dass Sie unentschlossen sind. Es zeigt vielmehr, dass Sie sich mit einem Thema gründlich und in einer angemessenen Tiefe auseinandersetzen.
Durch diese Strategien lernen Sie, Ambivalenz nicht als Hindernis, sondern als wertvolle Ressource zu nutzen. Das „Sowohl als auch“ verhilft Ihnen zu mehr innerer Ruhe und Flexibilität – und zu einem tieferen Verständnis der eigenen Bedürfnisse und derjenigen anderer.
Das Toleranzparadoxon – die Grenzen des „Sowohl als auch“
Im Zusammenhang mit dem „Sowohl als auch“-Prinzip stößt man unweigerlich auf das sogenannte Toleranzparadoxon – die Frage, ob man auch Intoleranz tolerieren sollte. Dieses Paradoxon, das der Philosoph Karl Popper beschrieben hat, besagt, dass eine uneingeschränkte Toleranz gegenüber intoleranten Haltungen letztlich die eigene Toleranz zerstören kann. Hier prallt das Bedürfnis nach Offenheit und dem Akzeptieren unterschiedlicher Meinungen auf die Gefahr, dass diese Toleranz von extremen, radikalen Ansichten ausgenutzt wird.
Bezogen auf das „Sowohl als auch“ ist dies eine spannende Herausforderung: Während das Zulassen und Aushalten von Ambivalenz, wie oben beschrieben, zu mehr gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher Stabilität führen kann, stellt sich die Frage, ob es Grenzen geben muss. Kann das „Sowohl als auch“ wirklich für jede Haltung und Meinung gelten? Oder muss es einen Punkt geben, an dem wir sagen: „Hier endet die Toleranz, weil die grundlegenden Werte des Zusammenlebens bedroht werden“? Ich halte das für zwingend erforderlich – spätestens dann, wenn es um Verhaltensweisen geht, die die eigene psychische Gesundheit – beispielsweise das grenzüberschreitende und manipulative Verhalten von Narzissten – oder die gesellschaftliche Stabilität – beispielsweise durch Neid, Egoismus oder Unmenschlichkeit bedrohen.
Dieses Spannungsfeld erfordert eine differenzierte Auseinandersetzung. Ein „Sowohl als auch“ fördert die Vielfalt und respektiert unterschiedliche Sichtweisen, doch die Toleranz für radikale, menschenfeindliche oder ausgrenzende Positionen kann nicht bedingungslos sein. Hier müssen wir abwägen: Einerseits wollen wir eine offene, vielfältige Gesellschaft, die unterschiedliche Meinungen anerkennt und zulässt, andererseits muss es Regeln geben, die sicherstellen, dass diese Toleranz nicht dazu missbraucht wird, um Spaltung, Hass oder Diskriminierung zu fördern und dadurch das Gegenteil der ursprünglichen Absicht zu erreichen.
In Beziehungen, in Gruppen oder auf gesellschaftlicher Ebene kann das „Sowohl als auch“ also ein stabilisierender Faktor sein, solange es nicht dazu führt, dass extrem intolerante Haltungen die Oberhand gewinnen. Es geht darum, die Balance zu finden – zwischen der Akzeptanz unterschiedlicher Standpunkte und dem Schutz der gemeinsamen Werte, die für ein respektvolles Miteinander unabdingbar sind.
„Sowohl als auch“ im Kontext von Veränderung und Wachstum
Ambivalenz ist oft ein Begleiter von Veränderung und persönlichem Wachstum. Das beginnt häufig schon zu Beginn der Pubertät, wenn wir unser bisheriges Lieblingsspielzeug aussortieren und auf den Dachboden bringen, weil wir spüren, dass es nicht mehr zu uns passt. Das ist für viele Heranwachsende eine schwierige Phase, in der Bedürfnisse des Erwachsenen und Bedürfnisse des Kindes parallel existieren und man innerlich schwankt zwischen „ich ziehe aus“ und „ich will auf den Arm“. Aber – wie wir vermutlich alle feststellen können – haben sich die Dinge mit der Zeit neu sortiert.
Doch auch, wenn wir uns als Erwachsene auf Neues einlassen oder alte Gewohnheiten hinter uns lassen, tauchen diese widersprüchlichen Gefühle auf. Wir spüren sowohl Vorfreude auf das, was kommt, als auch Unsicherheit und Angst vor dem Unbekannten. Dieser Zustand der Ambivalenz ist kein Zeichen dafür, dass man sich falsch entscheidet, sondern vielmehr ein natürlicher Part des Entscheidungs- und Loslassprozesses.
Denn Veränderung bedeutet immer, dass wir etwas Altes loslassen, und das bringt oft unterschiedlichste Gefühle mit sich. Selbst wenn wir uns bewusst für einen neuen Weg entscheiden, gibt es häufig Anteile in uns, die am Bekannten festhalten wollen. Diese innere Spannung kann zu zögern oder schlimmstenfalls sogar zu inneren Blockaden führen. Doch anstatt Ambivalenz als Hindernis abzuwerten, könnten wir uns konkret fragen, wovor wir Angst haben beziehungsweise können wir die Situation als temporäre Übergangssituation begreifen, in der sowohl die einen als auch die anderen Gefühle sein dürfen. So kann sich unser Inneres in Ruhe sortieren und wenn das geschehen ist, werden wir auch wieder auf natürliche Art und Weise aktiv.
Ein „Sowohl als auch“ zuzulassen ist also kein Signal dafür, dass wir Rückschritte machen. Veränderung und Wachstum sind – wie in der Pubertät – immer mit einer gewissen Unsicherheit verbunden, und Ambivalenz ist oft das Zeichen, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. Sie fordert uns auf, nicht nur das Ziel im Blick zu haben, sondern auch den Veränderungsprozess zu reflektieren und bewusster zu erleben. Indem wir lernen, mit Ambivalenz umzugehen, öffnen wir uns für tiefere, zu uns selbst führende Entwicklungsprozesse. Denn echtes Wachstum passiert selten in der Komfortzone – es ist das Aushalten und Überwinden ambivalenter Gefühle, das uns letztlich weiterbringt.
Fallbeispiel: Ein Klient zwischen zwei Lebenswegen
Herr Schmidt, kam zu mir, weil er sich in einer Phase beruflicher und persönlicher Unsicherheit befand. Er war Mitte 40 und hatte eine gut bezahlte Stelle in einem großen Unternehmen, die ihm jedoch schon seit Jahren keine Erfüllung mehr brachte. Sein Traum war es, sich als Berater in der Kreativbranche selbstständig zu machen. Doch die Angst vor dem Scheitern und dem Verlust seiner finanziellen Sicherheit hielt ihn zurück.
Als Herr Schmidt das erste Mal meine Praxis betrat, fiel mir sofort seine Anspannung auf. Er setzte sich relativ steif auf die Kante des Sessels, verschränkte die Arme vor der Brust und warf immer wieder nervöse Blicke aus dem Fenster. „Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll“, begann er. Seine Stimme war zwar fest, aber seine Augen verrieten seine innere Zerrissenheit. „Auf der einen Seite kann ich so nicht weitermachen. Ich bin in meinem Job unglücklich, aber… was, wenn ich alles verliere, wenn ich mich selbstständig mache?“
Ich nickte, lehnte mich leicht vor und sagte: „Es klingt, als würden Sie zwischen dem Bedürfnis nach Freiheit und dem nach Sicherheit hin- und hergerissen sein.“
Herr Schmidt seufzte tief, seine Schultern sackten leicht nach unten. „Ja, genau das!“, antwortete er und rieb sich nervös die Hände. „Ich sehe all diese tollen Möglichkeiten, und dann denke ich, dass es verrückt ist, einen sicheren Job aufzugeben.“ Sein Blick war nun auf den Boden gerichtet, seine Finger spielten unruhig mit der Kante seines Hemds.
„Ich verstehe“, sagte ich. „Es ist ja auch beides wichtig. Aber niemand zieht in ein Gefängnis, nur weil er Angst vor Einbrechern hat.“
Herr Schmidt schaut überrascht auf: „wie meinen Sie denn das?“
„Naja“, fahre ich fort, „man kann ja davon ausgehen, dass ein Gefängnis – zumindest in Bezug auf Einbrecher – ein sehr sicherer Ort ist. Was macht Ihnen an der Selbstständigkeit am meisten Angst?“
Herr Schmidt hob den Kopf und zögerte kurz. „Ich denke… es ist das Ungewisse. Was, wenn ich keine Kunden finde? Was, wenn ich mich übernehme?“ Er schüttelte den Kopf, als ob er diese Gedanken loswerden wollte. „Ich weiß nicht, ob ich das Risiko eingehen kann.“
„Was, wenn bei mir eingebrochen wird…“ fahre ich leicht lächelnd fort.
Herr Schmidt versteht sofort und steigt ins Lächeln – bei ihm war es schon fast ein Grinsen – mit ein.
„Was sagt denn der Teil in Ihnen, der sich nach mehr Freiheit sehnt?“, fragte ich, um den durch das Lächeln entstandenen Raum zu nutzen.
„Dieser Teil…“ Herr Schmidt hielt inne und erneut zog ein leichtes Lächeln über sein Gesicht, während seine Augen für einen Moment aufleuchteten. „Dieser Teil sieht das große Bild. Er sieht, was ich alles machen könnte – wie kreativ ich sein könnte, wie viel mehr Spaß es machen würde, etwas Eigenes zu schaffen.“ Doch dann verschwand das Lächeln ebenso schnell, wie es gekommen war, und seine Stirn legte sich wieder in Falten. „Aber was, wenn das nicht reicht?“
Hier zeigte sich die volle Ambivalenz: einerseits der Drang nach kreativer Freiheit, andererseits die Angst vor dem finanziellen Risiko. Herr Schmidt war hin- und hergerissen zwischen diesen beiden Polen, war gleichzeitig gelähmt und motiviert.
„Gibt es eigentlich noch andere Ideen dazu, wie Sie Ihr Leben gestalten möchten? Oder haben wir jetzt diese beiden Möglichkeiten: 100% angestellt oder 100% selbstständig?“
Herr Schmidt dachte eine Weile nach plötzlich entspannte sich sein Körper sichtbar. „Vielleicht… geht ein ’sowohl als auch‘. Ich könnte ich es erst mal nebenbei probieren, Teilzeit. Ich könnte sehen, wie es läuft, ohne gleich alles aufs Spiel zu setzen. Sozusagen erst einmal den Mittelweg wählen.“ Seine Stimme klang jetzt etwas ruhiger, und auch sein Blick beruhigte sich.
Fazit: Die Kunst, mit Ambivalenz umzugehen und sie zu akzeptieren
Ambivalenz ist ein fester Bestandteil des Lebens, besonders in Zeiten von Veränderung und Wachstum. Sie zwingt uns, widersprüchliche Gefühle und Gedanken auszuhalten, anstatt schnelle, eindeutige Lösungen zu suchen. Die Kunst, mit Ambivalenz umzugehen, besteht darin, diese innere Zerrissenheit nicht als Hindernis, sondern als Chance zu sehen. Indem wir beide Seiten unserer Gefühle anerkennen – sowohl die positiven als auch die negativen –, schaffen wir Raum für differenzierte Entscheidungen und tiefere Einsichten.
Ambivalenz bedeutet absolut nicht Stillstand, sondern ist im Gegenteil ein Zeichen dafür, dass wir uns in einem Wachstumsprozess befinden. Wenn wir lernen, Ambivalenz zu akzeptieren, können wir uns von dem Druck befreien, sofort klare Antworten finden zu müssen. Stattdessen haben wir die Möglichkeit, verschiedene Perspektiven zu erkunden und in unserem eigenen Tempo zu einer Lösung zu kommen. Es geht darum, Unsicherheit auszuhalten und die Tatsache zu akzeptieren, dass das Leben selten in Schwarz-Weiß, sondern vielmehr in Grautönen verläuft.
Wer die Ambivalenz als natürlichen Teil des Lebens annimmt, wird feststellen, dass sie uns nicht schwächt, sondern stärker und flexibler macht. Sie lehrt uns, mit Komplexität und Unsicherheit umzugehen – und genau das ist eine der wertvollsten Fähigkeiten, die wir in einer immer komplexeren Welt entwickeln können.
Weiterführende Informationen
- https://www.spektrum.de/magazin/die-guten-seiten-der-schlechten-laune/
- https://www.deutschlandfunkkultur.de/woher-kommt-unser-seelenfrieden-100.html
- https://unternehmensdemokraten.de/2020/09/21/sowohl-als-auch-statt-entweder-oder/
FAQ
Was bedeutet „Sowohl als auch“ im Kontext von Ambivalenz?
„Sowohl als auch“ beschreibt die Fähigkeit, widersprüchliche Gefühle, Gedanken oder Perspektiven gleichzeitig zuzulassen. Es geht darum, nicht sofort eine klare Entscheidung treffen zu müssen, sondern beide Seiten einer Situation zu akzeptieren und nebeneinander stehen zu lassen. Diese Haltung kann helfen, inneren Druck abzubauen und differenzierte Entscheidungen zu treffen.
Ist „Sowohl als auch“ nicht eine Form von Unentschlossenheit?
Nein, „Sowohl als auch“ ist keine Unentschlossenheit, sondern ein bewusster Umgang mit Komplexität. Statt sich zu schnell auf eine Seite festzulegen, gibt es die Möglichkeit, beide Seiten einer Situation anzuerkennen. Es fördert reflektiertes Denken und verhindert voreilige Entscheidungen, die oft nicht alle Aspekte berücksichtigen.
Wie kann das „Sowohl als auch“ zu mehr innerer Ruhe führen?
Das „Sowohl als auch“ hilft dabei, den Druck zu verringern, sich sofort festlegen zu müssen. Indem wir lernen, Widersprüche zu akzeptieren und auszuhalten, nehmen wir uns die Zeit, gründlicher über Entscheidungen nachzudenken. Dies führt zu weniger Stress und mehr innerer Gelassenheit, da wir uns nicht ständig zwischen Extremen entscheiden müssen.
Wie kann ich die „Sowohl als auch“-Haltung im Alltag stärken?
Gefühlen zu akzeptieren, statt sofort nach einer Lösung zu suchen. Üben Sie, die Perspektive zu wechseln und sowohl positive als auch negative Aspekte einer Situation nebeneinander zu betrachten. Lassen Sie sich Zeit bei Entscheidungen und lernen Sie, kleine Schritte zu gehen, anstatt schnelle, endgültige Antworten zu erwarten.
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