Teil 1 (Grenzen und Deiche) lesen Sie hier: Grenzen und Deiche
Inhaltsverzeichnis
Wie kann man Grenzen setzen lernen?
Im ersten Schritt müssen wir herausfinden, wo eine Grenze für uns sinnvoll ist. Genau wie Deiche in der Regel in Wassernähe gebaut werden, haben auch wir unsere individuellen Punkte, Situationen oder Menschen, die eine Grenze rechtfertigen. Möglicherweise holen wir uns ein, zwei Mal nasse Füße – aber dann wissen wir hoffentlich, dass wir an dieser Stelle etwas tun sollten. Ein Deich wird sorgfältig geplant und auch unsere Grenzen sollten in Bezug auf die Fragen „wo?“ und „wie?“ gut durchdacht sein.
Sie brauchen ein stabiles Fundament aus Selbstkenntnis, die Bereitschaft, auf innere Signale zu achten, und eine konsequente Pflege durch regelmäßige Selbstreflexion und achtsames Verhalten. Wenn wir unsere inneren „Grenzdeiche“ stark halten, schützen wir unsere Energie, unser Wohlbefinden und stärken letztlich unseren Selbstwert.
Tipps und Übungen zum Setzen von Grenzen
Grenzen zu setzen fällt uns oft sehr schwer, vor allem, wenn man es gar nicht gewohnt ist, klare „Stopps“ zu äußern. Wir fühlen uns dann häufig viel zu hart und denken, wir stoßen unserem Gegenüber mächtig vor den Kopf. Ich kann Ihnen versichern: Es fühlt sich nur so an. Hier geht es nicht um Ihren absoluten Härtegrad, die Differenz zwischen altem und neuem Verhalten lässt es so hart erscheinen. Sie haben vielleicht schon einmal erlebt, dass Sie im Winter mit richtig eisigen Händen nach Hause gekommen sind, diese unter lauwarmes Wasser gehalten haben und es schien, als wäre das Wasser heiß. Das ist das gleiche Prinzip.
Lassen Sie sich nicht vom ersten Eindruck irritieren. Sie werden sich daran gewöhnen. Hier sind jedenfalls ein paar recht einfache Übungen, die Ihnen helfen können, Ihre persönlichen Grenzen zu erkennen und schrittweise zu festigen.
1. Beginnen Sie, sich selbst das „Nein“ zu erlauben
Fangen Sie in kleinen, alltäglichen Situationen an, öfter mal „Nein“ zu sagen – und seien Sie sich dabei bewusst, dass es völlig in Ordnung ist, nicht jeder Bitte sofort nachzukommen.
Wenn etwa ein Kollege Sie bittet, eine zusätzliche Aufgabe zu übernehmen, die gerade nicht passt, versuchen Sie, diese Bitte freundlich, aber bestimmt abzulehnen: „Tut mir leid, das schaffe ich heute nicht.“ Die eigentliche Übung besteht darin, sich selbst das „Nein“ zu erlauben – wenn das klappt, fällt das Aussprechen in der Regel leicht
2. Grenzen visualisieren
Manchmal hilft es Menschen, sich die eigenen Grenzen bildlich darzustellen, um sie klarer sehen zu können. Nehmen Sie sich ein Blatt Papier und zeichnen Sie drei Kreise: Einen für Ihre emotionalen, einen für Ihre mentalen und einen für Ihre körperlichen Grenzen. Schreiben Sie in jeden Kreis Situationen, Menschen oder Verhaltensweisen, bei denen Sie oft das Gefühl haben, dass Ihre Grenzen erreicht oder sogar überschritten werden. Diese Visualisierung macht deutlich, wen und was Sie im Alltag möglicherweise als „zu viel“ empfinden – und zeigt Ihnen, wo Sie in Ihrem Leben besonders achtsam sein dürfen.
3. Körperliche Reaktionen wahrnehmen
Unser Körper kann uns untrügliche Signale geben, und zwar nicht nur Hunger, Durst und Müdigkeit. Rufen Sie sich mal ein, zwei Situationen ins Gedächtnis, die Ihnen eigentlich „zu viel“ waren.
Welche Signale hat Ihr Körper Ihnen gesendet? Möglicherweise angespannte Schultern und ein flacher Atem? Das sind nur zwei Möglichkeiten, mit denen Ihr Körper signalisieren kann, dass jemand oder etwas Ihnen zu nahe kommt.
Welche Signale sendet Ihr Körper Ihnen noch?
Machen Sie sich mit der Sprache Ihres Körpers vertraut und Sie können schon kleinste Abweichungen erkennen und so frühzeitig reagieren, dass es für Sie höchstwahrscheinlich weder unangenehm noch anstrengend ist.
4. Wählen Sie ein „Grenz-Wort“
Erinnern Sie sich noch an Ihre Kindheit? Falls ja, dann kennen Sie wahrscheinlich das Mantra-artige „Sauer – sauer – sauer“, das Sie oder andere Kinder vor sich hingemurmelt haben, sobald eine Wespe angeschwirrt kam. Ich vermute, die Wespe hat sich nicht großartig dafür interessiert, das Prinzip war aber richtig.
Denn manchmal hilft es, sich selbst ein kleines „Grenz-Wort“ zu suchen, mit dem Sie sich daran erinnern können, dass es wichtig und vollkommen in Ordnung ist, wenn Sie Grenzen setzen. „Stopp“, „Nein“ oder „Pause“ können hier hilfreich sein.
Spielen Sie auch in Gedanken Szenen durch, in denen es nicht so gut funktioniert hat, am besten so häufig, bis Sie sich selbst als souveränen Grenzsetzer erleben.
5. Reflektieren Sie über Ihre Erfahrungen
Grenzen zu setzen, lernt man in der Regel nicht über Nacht. Stellen Sie sich auf einen längeren Prozess ein und rechnen Sie auch mit Rückschlägen. Das ist ganz normal.
Nehmen Sie sich am besten abends ein paar Minuten, um zu reflektieren, wo Sie gut und wo Sie weniger gut mit Ihren Grenzen umgegangen sind. Haben Sie es geschafft, „Nein“ zu sagen, oder gab es Situationen, in denen Sie nachgegeben haben, obwohl es Ihnen nicht gutgetan hat?
Vielleicht führen Sie eine Zeit lang Buch darüber, wo es wunschgemäß läuft und wo noch Verbesserungsbedarf besteht. Dann können Sie reflektieren, welche Menschen oder Situationen noch eine größere Herausforderung für Sie darstellen und Ihre Fähigkeit, Grenzen zu setzen, Schritt für Schritt verbessern.
Der wichtigste Schritt beim Setzen von Grenzen ist, die eigenen Bedürfnisse überhaupt erst einmal zu erkennen. Fragen wie „Was brauche ich in dieser Situation wirklich?“ oder „Wie viel Nähe oder Distanz tut mir in dieser Situation gut?“ können hierbei hilfreich sein.
Wie geht man mit Widerstand oder Missachtung um?
Wahrscheinlich hat es jeder schon einmal erlebt: Fußgänger gehen quer über eine Wiese, um eine Abkürzung zu nehmen, und nach kurzer Zeit ist ein gut ausgetretener Trampelpfad entstanden.
Nach einiger Zeit stellt die Stadt einen Zaun auf. Doch ein, zwei Tage später ist dieser bereits wieder herunter getrampelt und die Menschen können Ihre gewohnte Abkürzung wieder nehmen.
Wir Menschen akzeptieren also neue Grenzen, nicht unbedingt und schon gar nicht sofort.
Das wird Ihnen nicht anders ergehen, wenn sie beginnen, Grenzen zu setzen, die sie lange Zeit nicht deutlich gemacht haben. Sie müssen sich also auf Widerstand gefasst machen und überlegen, wie sie mit diesem umgehen möchten.
Auf lange Sicht wird sich Ihr Umfeld an die Veränderungen gewöhnen. Aber die Frage ist, wie sie bis dahin mit dem Gegenwind, den sie ernten werden, umgehen möchten.
Wichtig ist, in solchen Momenten ruhig zu bleiben und die Grenze trotz des Widerstands aufrechtzuerhalten. Wenn jemand Ihre Grenze nicht akzeptiert oder sogar bewusst überschreitet, kann es hilfreich sein, konsequent zu bleiben und das eigene Bedürfnis mit ruhiger Stimme zu wiederholen.
Im Zweifelsfall müssen Sie bereit sein, Konsequenzen zu ziehen. Vielleicht müssen Sie ein ernstes Gespräch über die Bedeutung von Freundschaft führen. Sollte sich dann nichts ändern, dürfen Sie auch darüber nachdenken, ob der betreffende Mensch überhaupt noch in Ihr Leben passt.
Grenzen zu setzen bedeutet nämlich auch, mit dem Risiko zu leben, dass manche Menschen diese Grenzen nicht respektieren – und Sie damit übrigens auch nicht. Versuchen Sie bei sich zu bleiben und diese Menschen gehen zu lassen. Reisende soll man nicht aufhalten.
Fazit: Grenzen setzen ist Selbstfürsorge
Grenzen zu setzen und zu achten ist ein wesentlicher Bestandteil Ihrer Selbstfürsorge und persönlicher Stabilität. Genauso wie Deiche uns vor den zerstörerischen Kräften des Wassers schützen, bewahren uns unsere persönlichen Grenzen vor Überforderung und Stress. Zudem bewahren sie uns vor dem Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren.
Der Vergleich mit den Sturmfluten von 1962 und 1976 zeigt, wie wichtig es ist, rechtzeitig zu handeln: beim Baum von Deichen und beim Setzen eigener Grenzen.
Ein starkes Fundament, kontinuierliche Pflege und die Bereitschaft, nachzubessern, wo es nötig ist, sichert nicht nur das Deichhinterland, sondern auch unsere emotionale und mentale Gesundheit.
Grenzen zu setzen ist allerdings kein starrer Prozess, mit dem Sie irgendwann fertig sind. Es ist ein immerwährender Vorgang, der Flexibilität erfordert, genauso wie die Fähigkeit, sich selbst und die eigenen Bedürfnisse immer wieder neu zu reflektieren. Ob durch kleine Übungen wie das bewusste „Nein“-Sagen, das Wahrnehmen körperlicher Impulse oder die wiederholende Kommunikation von Bedürfnissen – jeder Schritt in Richtung klarer Grenzen stärkt nicht nur Ihren Schutz vor äußeren Belastungen, sondern auch Ihr Selbstbewusstsein und Ihre Resilienz.
Natürlich stößt das Setzen von Grenzen nicht immer auf Verständnis. Widerstand und Missachtung gehören oft dazu, besonders wenn Menschen in Ihrem Umfeld an Ihre alten Muster gewöhnt sind. Doch genau hier zeigt sich die Stärke Ihrer „Grenzdeiche“: in der Fähigkeit, sich selbst treu zu bleiben, selbst dann, wenn es unbequem wird. Langfristig werden die Menschen, die wirklich wichtig sind, Ihre Grenzen respektieren und damit Ihren Wert anerkennen.
Denken Sie daran, dass das Setzen von Grenzen kein egoistischer Akt ist. Im Gegenteil: Es ist die Grundlage dafür, sowohl sich selbst als auch anderen authentisch und mit innerer Kraft begegnen zu können. Es ist Ihr persönliches „Ja“ zu Ihrem individuellen Leben, in dem eine innere Verbundenheit und Balance herrschen dürfen. Ein Leben, in dem Sie selbstbestimmt Ihre Entscheidungen treffen, ganz gleich, ob Sie Zustimmung oder Ablehnung dafür ernten – eben stabil wie ein Deich.
Weiterführende Informationen
- https://zeitzuleben.de/grenzen-haben-grenzen-setzen/
- https://www.gq-magazin.de/lifestyle/artikel/persoenliche-grenzen-setzen
- https://www.psychotipps.com/positiver-umgang-mit-eigenen-grenzen.html
FAQ
Warum fällt es mir so schwer, Grenzen zu setzen?
Es kann verschiedene Gründe haben, warum es Ihnen schwerfällt, Grenzen zu setzen. Oft liegt es an erlernten Mustern aus der Kindheit. Vielleicht wurden Sie dazu erzogen, anderen zu gefallen oder Konflikte um jeden Preis zu vermeiden. Auch Angst vor Ablehnung oder der Wunsch, immer für andere da zu sein, können eine Rolle spielen. Das ist keine Schwäche, sondern ein Hinweis darauf, dass Sie sich bisher mehr um andere als um sich selbst gekümmert haben.
💡 Tipp: Üben Sie, in kleinen Schritten „Nein“ zu sagen, und achten Sie darauf, wie sich das für Sie anfühlt. Ein freundliches, aber bestimmtes „Das passt für mich gerade nicht“ ist ein guter Anfang.
Kann ich Grenzen setzen, ohne andere vor den Kopf zu stoßen?
Ja, Grenzen zu setzen bedeutet nicht, unhöflich oder abweisend zu sein. Es geht vielmehr darum, klar und respektvoll zu kommunizieren, was für Sie funktioniert und was nicht. Eine wertschätzende Haltung hilft dabei: „Ich schätze unsere Zusammenarbeit, aber ich brauche Zeit für mich“ zeigt, dass Sie Ihre Grenzen nicht aus Ablehnung setzen, sondern aus Selbstfürsorge.
💡 Tipp: Sätze wie „Ich brauche das jetzt, um leistungsfähig zu bleiben“ oder „Das fühlt sich für mich stimmig an“ signalisieren Ihre Bedürfnisse, ohne Vorwürfe zu machen.
Wie erkenne ich, dass meine Grenzen überschritten wurden?
Oft spüren Sie es zuerst körperlich oder emotional: Sie fühlen sich erschöpft, gereizt oder haben das Gefühl, jemand hat „über Ihre Bedürfnisse hinweg getrampelt“. Vielleicht sagen Sie auch zu oft „Ja“ zu Dingen, die Sie eigentlich nicht wollen, und fühlen sich hinterher frustriert oder ausgenutzt. Diese Gefühle sind Signale dafür, dass Ihre inneren Alarmglocken läuten.
💡 Tipp: Reflektieren Sie Situationen, in denen Sie sich unwohl fühlen, und überlegen Sie, welche Grenze hier möglicherweise überschritten wurde.
Wie lerne ich, meine Grenzen zu verteidigen, wenn jemand sie nicht respektiert?
Es ist wichtig, standhaft zu bleiben, wenn jemand Ihre Grenzen ignoriert. Wiederholen Sie ruhig, aber bestimmt Ihre Aussage, z. B.: „Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich das so nicht machen kann.“ Vermeiden Sie Diskussionen oder das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Wenn die Person weiterhin Ihre Grenzen missachtet, ziehen Sie Konsequenzen, z. B. indem Sie den Kontakt reduzieren.
💡 Tipp: Üben Sie diese Szenarien im Vorfeld, vielleicht mit einer vertrauten Person oder vor dem Spiegel. So sind Sie vorbereitet, wenn es darauf ankommt.
Entdecke mehr von Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologische Beratung in Hamburg
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.