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Ist Geduld noch eine Tugend?
Geduld – in Zeiten von Amazon-Lieferungen noch am Tag der Bestellung klingt das fast wie aus der Zeit gefallen. „Abwarten und Teetrinken“ ist eher das Motto von vorgestern als das von heute. Alles, was länger als zwei Klicks vom Ziel entfernt ist, dauert eindeutig zu lange.
In einer Welt, in der alles sofort verfügbar ist – Informationen, Kontakte, Essen, Unterhaltung – wirkt Geduld fast schon wie ein Anachronismus. Vielleicht versuchen aus diesem Grund manche Menschen zur Brechstange zu greifen, wenn sie merken, dass es bezüglich der eigenen Veränderung keine Same-Day-Lieferung gibt.
Wer sich auf den Weg des persönlichen Wachstums und der psychischen Heilung macht, braucht mehr als nur den Willen zur Veränderung – er braucht Geduld. Nicht als passive Abwarte-Haltung, sondern als aktive Entscheidung: Dranzubleiben und zu vertrauen, auch wenn von noch Veränderung noch nichts zu sehen ist.
Nachhaltige Veränderung kommt nicht über Nacht – bleiben Sie trotzdem dran
„Ja und dann brech’ ich den Kontakt zu meiner Familie ab, und am nächsten Tag ist alles wieder gut, oder wie?!“
So ähnlich platzte es einmal aus einem Klienten heraus. Es ging um respektloses, ja fast schon abwertendes Verhalten seiner Familie. Seit seiner Kindheit war er der Sündenbock. Aggressionen wurden auf ihn projiziert. Er wurde immer wieder gemobbt und litt unter der Lieblosigkeit.
Wer die Geduld beherrscht, beherrscht alles andere. (George Savile)
Trotzdem – oder deswegen – hielt er an seiner Familie fest und versuchte auch als erwachsener Mann noch, die elterliche Liebe zu bekommen, die er nie spüren konnte.
Die etwas wütende Äußerung war natürlich in gewisser Weise richtig: Natürlich geschieht Veränderung nicht über Nacht. Nachhaltige Veränderung ist kein Schalter, den man umlegt. Nachhaltige Veränderung ist eher mit Wachstum zu vergleichen. Und je nach Lebewesen benötigt das Wachstum zwischen wenigen Wochen und mehreren Jahren.
Es ist also kein gemütlicher Spaziergang, eher eine mehrtägige Überquerung der Alpen. Möglicherweise gibt es auch da Momente, in denen man sich leise fluchend fragt, warum man sich bloß darauf eingelassen hat.
Aber es lohnt sich!
Veränderung ist ein Prozess – keine Sofortmaßnahme
Wer zu mir in die Praxis kommt, hat in der Regel eine mehr oder weniger großen Leidensdruck im Gepäck. Außerdem Mut – sonst hätte sie keinen Termin gemacht – und natürlich Hoffnung. Schließlich möchte er, dass es ihm schnell wieder besser geht.
Nur Geduld…. Geduld haben die meisten Menschen nicht mehr. Die ist aufgebraucht vom ständigen Aushalten und Hoffen, dass es wieder besser wird. Also ist die Hoffnung, dass sich schnell etwas ändert und der Leidensdruck abnimmt.
Manchmal entlarven wir dann im Gespräch Ideen, die in etwa so aussehen: „Wenn ich dieses oder jenes tue, dann geht es mir besser.“
Die stärksten aller Krieger sind diese beiden – Zeit und Geduld. (Leo Tolstoi)
Wenn mir der oben erwähnte Klient beispielsweise sagt: „Ich habe jetzt seit drei Wochen keinen Kontakt zu meinen Eltern und es geht mir immer noch nicht besser.“, dann erwidere ich meistens als erstes, dass ich ein „Schalter-Denken“ erkenne und er sich seine Situation so vorstellen müsse, wie einen komplizierten mehrfachen Beinbruch, der gerade geschient und eingegipst ist. Da würde niemand auf die Idee kommen, nach drei Tagen wieder gehen zu können, nur weil mit dem Gips etwas Heilungsförderndes getan wurde.
Hören Sie auf zu wollen
Manche Menschen haben eine fixe Idee davon, was passieren müsste, damit es ihnen ihrer Vorstellung nach besser geht. Verständlicherweise möchten sie das möglichst schnell – manchmal auch unter Zuhilfenahme einer wie auch immer gearteten Brechstange – zu erreichen.
Leider ist dies in der Regel kontraproduktiv, denn es geht nicht darum, etwas zu erreichen, schon gar nicht unter Anstrengung. Nein, es geht darum, endlich der Mensch sein zu dürfen, der man ist. Durch Erziehung, Sozialisation und äußere Einflüsse wie Werbung und Social Media werden uns Ideen präsentiert, wie wir sein sollten, um geliebt beziehungsweise sozial akzeptiert zu werden.
Doch die haben mit unserem Wesen häufig nur wenig zu tun.
In der Therapie erleben viele Menschen zum ersten Mal, wie es sich anfühlt, wenn der Druck rausgenommen wird. Kein Müssen, kein Sollen, kein ständiges Streben nach Optimierung. Nur die ehrliche Begegnung mit sich selbst, mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen, mit dem eigenen Wesen.
Natürlich ist das kein Prozess, der „mal eben“ durchlaufen werden kann.
Nimm das Tempo der Natur an: ihr Geheimnis ist Geduld. (Ralph Waldo Emerson)
Alles Wachstum braucht Zeit – und damit Geduld
Ein Apfelbaum braucht eine bestimmte Zeit, bis er das erste Mal trägt, Getreide, braucht eine bestimmte Zeit von der Saat bis zur Ernte. Und auch wir brauchen eine bestimmte Zeit für unsere Entwicklung – sowohl körperliche als auch für die persönliche.
Und das gilt für jede Art von Entwicklung: Eine Störung verlängert den Prozess. Pflanzen, die immer wieder niedergetrampelt werden, müssen auch immer wieder Kraft ins erneute Aufrichten stecken, bevor sie weiter wachsen können.
Genau so verhält es sich mit uns Menschen. Wenn wir immer nur damit beschäftigt sind, uns gegen Angriffe von außen zu verteidigen oder uns nach erfolgreichen Angriffen wieder aufzurappeln, dann haben wir kaum noch Kapazitäten, die wir in unser inneres Wachstum fließen lassen können.
In der Therapie erleben viele Menschen zum ersten Mal, wie es sich anfühlt, einfach sein zu dürfen. Sie müssen nichts darstellen, nichts zurückhalten oder sich Gedanken darüber machen, was die Therapeutin oder der Therapeut über ihn denken könnte. Für die meisten Menschen ist das manchmal erst unangenehm, im weiteren Therapieverlauf kommt fast immer die Freude am eigenen Sein zum Vorschein.
Der Schlüssel, um das Leben zu genießen, ist Geduld. (Michael J. Fox)
Manche Menschen, die zu mir in die Therapie kommen, haben die unterschwellige Angst, dass in ihnen eine Art Monster schlummert, das bloß nicht geweckt werden dürfe. Ich habe noch nie erlebt, dass im Laufe der Therapie ein Monster geweckt worden wäre und vermute, dass die Angst vor einem potenziellen Monster ein starkes Indiz dafür ist, dass es eben kein Monster gibt.
Diese Angst vor dem inneren Monster ist, wie vieles andere auch, seit Jahrzehnten gewachsen – geprägt durch Familie, Schule und Gesellschaft.
Und genau hier beginnt die echte Herausforderung: Geduld zu haben in einem Prozess, der kaum spürbar beginnt und lange Zeit keine sichtbaren Ergebnisse liefert. Das fühlt sich für viele Menschen erst mal wie Scheitern an.
Dabei ist es das genaue Gegenteil: Es ist der Moment, in dem Veränderung beginnt, der Moment, in dem unser wahres Wesen beginnt, in uns seine Wurzeln wachsen zu lassen.
Auch hier bietet sich ein Vergleich zum Pflanzenreich an: Lange, bevor die Pflanze für uns sichtbar wird – also durch die Erde kommt, beginnt sie – für uns nicht sichtbar – Wurzeln zu schlagen.
Warum wir so dringend schnelle Ergebnisse wollen
Es gibt viele Gründe dafür, dass wir so wenig Geduld mit uns selbst haben. Hier ein paar der häufigsten:
- Gesellschaftlicher Druck: Schnell, effizient, erfolgreich – alles andere wird gesellschaftlich häufig als Schwäche gelesen.
- Vergleich mit anderen: „Bei Sabine und Peter hat die Therapie doch auch geholfen – warum passiert bei mir noch nichts?!“
- Angst vor Rückschlägen: Wer einmal aufgestanden ist, setzt alles daran, bloß nicht noch einmal zu fallen.
- Kontrollverlust: Veränderung macht uns unsicher. Und Unsicherheit fühlt sich erst mal gefährlich an.
Aber – und das ist wichtig – emotionale Heilung lässt sich weder vergleichen noch folgt sie Regeln der Effizienz.
Das Warten ist der schwierigste Teil. (Tom Petty)
Sie ist ein innerer, oft lange unsichtbarer Prozess. Und der braucht Raum, Zeit und Vertrauen – und Geduld.
Veränderung säen heißt: Warten können
„Jeder Schritt, den man tut, ist ein Samen, den man sät, aber die Pflanze braucht Zeit zum Wachsen.“
Dieses Bild habe ich mal im Gespräch mit einer anderen Klientin benutzt. Sie hatte eine wichtige Grenze gezogen – nach Jahren des Schweigens hatte sie sich innerhalb der Familie positioniert und „nein“ gesagt. „Nein“ zu der Art, wie sie behandelt wurde, „nein“ zu Bevormundung und „nein“ dazu, klein gehalten zu werden. Und obwohl sie wusste, dass das der richtige Schritt war, fühlte sie sich am nächsten Tag nicht, wie sie erwartet hatte, gut, sondern nur leer.
Das enttäuschte sie natürlich sehr, und sie war drauf und dran, die Flinte ins Korn zu werfen.
Warum das?
Weil wir erwarten, dass der Mut zur Veränderung sofort belohnt wird. Weil wir in dieser schnelllebigen Zeit kaum noch Geduld üben können, wie ich eingangs beschrieb.
Sich in Geduld üben ist ein trefflicher Ausdruck dessen, was passiert.
Aber: Wer sät, muss nicht nur warten – sondern auch gießen. Und das bedeutet:
- Immer wieder hinschauen
- Sich selbst freundlich begegnen
- Aushalten, dass sich manches unklar anfühlt
- Dranbleiben, auch wenn Zweifel kommen
Woher kommt eigentlich der Ausdruck „sich in Geduld üben“?
Der Ausdruck „sich in Geduld üben“ klingt heutzutage fast schon anachronistisch. Doch wahrscheinlich ist trotz seiner längeren Existenz nie wirklich veraltet. Ob wir wollen oder nicht.
Ursprünglich stammt er aus dem mittelhochdeutschen Sprachgebrauch.
„Sich üben in …“ bedeutete damals: etwas aktiv trainieren, sich bewusst darin schulen.
Geduld kommt vom althochdeutschen gidult, das mit dulden, also ertragen oder aushalten, verwandt ist.
Wörtlich genommen heißt der Ausdruck also:
„Ich trainiere mich darin, etwas auszuhalten oder auf etwas zu warten.“
In vielen spirituellen Traditionen – vom Christentum über den Sufismus bis zum Zen-Buddhismus – galt Geduld als eine Form von innerer Meisterschaft. Nicht als Passivität, sondern als Ausdruck von Stärke und Klarheit.
Heute dürfen wir Geduld neu entdecken:
Geduld ist keine Schwäche.
Geduld ist eine Entscheidung.
Geduld ist ein Akt von Selbstfürsorge.
Ihre Veränderung braucht Raum, Ihren Mut – und Geduld
Falls Sie gerade in einer Phase sind, in der Sie denken: „Ich mache doch alles – warum tut sich nichts?“ „Ich dachte, nach der Entscheidung würde ich mich besser fühlen.“ „Warum ist das alles so zäh?“
Die Zeit verändert uns nicht. Sie entfaltet uns nur. (Max Frisch)
Dann kann ich Ihnen sagen: Es ist mitunter mühsam und zäh und manchmal zum Verzweifeln. Aber es wird der Moment kommen, an dem Sie das erste Mal bemerken, dass sich etwas verändert – dass Sie sich verändern.
Das Problem ist ja häufig, dass wir uns selbst jeden Tag begegnen. Eltern von kleinen Kindern werden das Phänomen kennen, dass ihr Kind jeden scheinbar Tag gleich groß ist – und trotzdem sind irgendwann die Hosen zu kurz und die Schuhe zu klein.
Genauso ist es auch mit unserer Entwicklung: Es sieht lange Zeit so aus, als würde sich gar nichts verändern und plötzlich sind im übertragenen Sinn die Hosen zu kurz.
Genießen Sie diese Momente und feiern Sie sie. Und vertrauen Sie darauf, dass mit der Zeit alles leichter wird.
Also: nur Geduld!
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FAQ
Warum fällt es mir so schwer, geduldig mit mir selbst zu sein?
Weil Sie es höchstwahrscheinlich nie gelernt haben. In unserer leistungsorientierten Gesellschaft wird Geduld oft mit Schwäche verwechselt. Dabei ist sie eine Form der inneren Stärke. Wer gelernt hat, sich nur über Leistung, Tempo oder Effizienz zu definieren, empfindet Geduld oft als Kontrollverlust – dabei ist sie in Wahrheit ein Vertrauensbeweis an sich selbst.
Woran merke ich, dass meine Geduld keine Ausrede ist, um nichts zu verändern?
Geduld heißt nicht: Ich mache nichts. Geduld heißt: Ich erkenne an, dass Veränderung Zeit braucht – aber ich gehe trotzdem kleine, bewusste Schritte. Wenn Sie sich regelmäßig fragen: „Was tut mir heute gut?“, oder „Was ist ein nächster kleiner Schritt?“, dann ist Ihre Geduld aktiv. Sie schützt Sie vor Überforderung – nicht vor Entwicklung.
Kann man Geduld wirklich „lernen“ – oder hat man sie einfach oder eben nicht?
Ja, man kann sie lernen. Geduld ist kein Charaktermerkmal, sondern eine Haltung, die sich durch Erfahrungen, Reflexion und bewusste Entscheidungen entwickeln lässt. Es hilft, sich mit den eigenen Erwartungen auseinanderzusetzen und zu verstehen, woher der Drang nach Schnelligkeit kommt. Auch Achtsamkeit und therapeutische Begleitung können diesen Lernprozess unterstützen.
Was kann ich konkret tun, wenn ich das Gefühl habe, meine Geduld ist am Ende?
Atmen. Einen Moment innehalten. Und sich erinnern: Geduld heißt nicht, alles aushalten zu müssen. Manchmal ist es sinnvoll, sich Unterstützung zu holen, Grenzen zu setzen oder den Druck bewusst loszulassen. Fragen Sie sich: „Was würde ich einem guten Freund in dieser Situation raten?“ – und handeln Sie genauso liebevoll mit sich selbst.
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